Johann Wolfgang Goethe
Johann Wolfgang von Goethe gilt er als der bedeutendste deutscher Dichter und als herausragende Persönlichkeit der Weltliteratur. Kaum ein Aspekt seines Lebens von seiner Geburt am 28. August 1749 in Frankfurt am Main bis zu seinem Ableben am 22. März 1832 in Weimar wurde nicht mehrfach untersucht und beschrieben. Dennoch fand ein bedeutender Aspekt seines Lebens, der Islam, kaum Eingang in deutsche Schulbücher.
Anfang 1995 erklärte eine Gruppe von deutschsprachigen Muslimen in Weimar, dass Goethe ein Muslim gewesen sei. Obwohl es für jene Behauptung kaum endgültig nachprüfbare Belege gibt, verdeutlichte die Aussage doch, wie sehr ein wichtiger Aspekt seines Lebens in der klassischen Goethe-Forschung ausgeklammert wird. Maßgebliches Spiegelbild für die Begegnung Goethes mit dem Islam ist in seinem West-östlichen Divan wiedergegeben.
Goethe lebte in einer Zeit, in der die ersten Qur'an-Übersetzungen ins Deutsche vorlagen. Darüber hinaus gab es zahlreiche Reiseberichte in die muslimische Welt. So gibt es in den "Noten und Abhandlungen" zum West-östlichen Divan zahlreiche Verweise auf jene Reiseberichte, insbesondere auf die des Schriftsteller Olearius in den Iran mit seinen ersten Übersetzungen des Golestan von Saadi ins Deutsche.
Nach Ansicht von Prof. Annemarie Schimmel war es Herder, der Goethe dazu anregte, sich mit dem Orient zu beschäftigen. Goethe war damals Student in Straßburg und wurde Herder und Voltaire inspiriert, und Herder eröffnete ihm einen ersten Blick in die orientalische Welt, der er sich zukünftig immer wieder in verschiedenen Formen näherte. Im Jahre 1772 beschloss Goethe, ein Gegendrama zu Voltaires "Mahomet ou le fanatism" (Mahomet oder der Fanatismus) von 1683 zu schreiben, von dem nur zwei Bruchstücke erhalten sind. Jene Bruchstücke gehören zu den schönsten Werken des frühen 23-jährigen Goethe. Das Drama sollte ein Gespräch zwischen Imam Ali und Fatima darstellen, was aus den vorliegenden Bruchstücken allerdings nur schwer ersichtlich ist.
Das erste erhaltene Fragment ist heute bekannt unter dem Titel: "Mahomets Gesang". In dem Gedicht wird Prophet Muhammad mit dem Bild eines Flusses beschrieben, der aus kleinsten Anfängen in der Einsamkeit langsam seinen Weg in die Heimat findet und dabei alle, die in seinen Weg kommen, alle Quellen, Bäche, alle Flüsse mit sich nimmt und sie zu dem Einen großen göttlichen Vater führt. Der pakistanische Dichter Muhammad Iqbal übersetzte in einem Gedichtband, den er als Antwort auf Goethes West-östlicher Divan geschrieben hat, dieses Gedicht ins Persische und behauptete in der Fußnote, dass es kaum Gedicht gäbe, dass die dynamische Kraft des Prophet Muhammad schöner ausdrücke als Goethes Worte.
Das zweite Fragment aus dem geplanten Mahomet-Drama bezieht sich auf den Vers 6:78 im Heiligen Qur'an, wobei es darum geht dass Abraham die Verneigung vor den Sternen, dem Mond und dann der Sonne ablehnt und sagt: "Ich liebe nicht diejenigen, die untergehen" und sich zu dem Einen Gott wendet. Das Gedicht ist bekannt unter dem Titel "Gestirnter Himmel". Er hat damit sehr früh das abrahamitische Gebet wunderbar in deutsche Verse gebracht.
Goethe wird nachgesagt, dass er in seinen Studien zum Heiligen Qur'an zunächst die Übersetzungen ins Deutsche seines Zeitgenossen Megerlin nutzte, aber später enttäuscht war, da sie nicht die Kraft des Arabischen wiedergab und daher mehr und mehr die englische Übersetzung von George Sale und deren deutsche Bearbeitung verwendete.
Zwischen 1772 und 1814 ist wenig über seine Studien zum Islam bekannt, so dass er überrascht, dass er als 65-jähriger eine Art neue Rückwendung zum Orient in seinen Schriften unternimmt; viel stärker und intensiver, als es je vorher zu vermuten gewesen wäre.
Es wird behauptet, dass Goethe 1814 den von dem Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall 1812 ins Deutsche übersetzten Diwan des persischen Dichters Muhammad Schams ad-Din (Hafiz) gelesen habe. Daraufhin verfasste er den West-östlichen Divan, der in 1819 veröffentlicht wurde, und beginnt es mit dem Gedicht: "Hidschra" (Auswanderung), was auf die innere "Auswanderung" Goethes hindeutet.
Im Januar 1814 kam eine Gruppe von Baschkiren aus dem russischen Heer nach Weimar, und in einem geeigneten Gebäude verrichteten sie ihre Ritualgebete und rezitierten aus dem Heiliger Qur'an. Goethe - so heißt es - hörte zum ersten Mal Arabisches rezitiert, und er sah zum ersten Mal das Ritualgebet, was ihn nach Berichten von Zeitgenossen zutiefst beeindruckte. Es gelang ihm im gleichen Jahr, eine Handschrift des Mathnawi von Dschalaleddin Rumi für die herzogliche Bibliothek in Weimar zu erwerben.
Nach der Analyse von Prof. Annemarie Schimmel hatte Anfang 1814 die neue Auswanderung begonnen und im Laufe der nächsten Monate und Jahre entwickelte sich ein Werk, das seinesgleichen wohl kaum in irgendeiner Literatur hat. Goethes Begeisterung für die orientalische Welt, die von Hafiz geweckt worden war, wurde noch dadurch gestärkt, dass er sich in eine schöne intelligente junge Frau verliebte, Marianne von Willemer, die sogar seinen Gedichten einige entgegensetzte, die dann in den West-östlicher Divan aufgenommen sind.
Gemäß Goethes Verständnis ist ein Wort niemals etwas Einseitiges und Einschichtiges, es ist ein geheimnisvolles Wesen, durch das man zu einer höheren Realität gelangen kann. Goethe nutzt dabei teilweise Bilder die im Deutschen eigentlich gar keinen Sinn geben, was auch darauf hindeutet, dass er in dieser Zeit mehr und mehr Arabisch gelernt hat. Er schreibt zum Beispiel einen Reim, in dem es heißt:
"SOLL MAN DICH NICHT AUFS SCHMÄHLICHSTE BERAUBEN,
VERBIRG DEIN GOLD, DEIN WEGGEHEN, DEINEN GLAUBEN"
Was im Deutschen wenig Sinn birgt, wird erst im Arabischen deutlich: Gold heißt ""dhahab", das Gehen bzw. Weggehen "dhahaabb" und der Glaube bzw. Glaubensrichtung ist "madhab", sie stammen alle von der gleichen Wurzel "dh-h-b". Es handelt sich um ein arabisches Wortspiel, das nur im Arabischen bekannt ist und Sinn macht.
Der Heilige Qur'an war für Goethe ein Buch „das uns, so oft wir auch daran gehen, immer von neuem anwidert, dann aber anzieht, in Erstaunen setzt und am Ende Verehrung abnötigt.“ Später dichtete er dazu:
Ob der Koran von Ewigkeit sei,
Darnach frag' ich nicht.
Ob der Koran geschaffen sei,
Das weiß ich nicht.
Dass er das Buch der Bücher sei,
Glaub ich aus Mosleminenpflicht.
Dass aber der Wein von Ewigkeit sei,
Daran zweifl' ich nicht;
Oder dass er vor den Engeln geschaffen sei,
Ist vielleicht auch kein Gedicht.
Der Trinkende, wie es auch immer sei,
Blickt Gott frischer in's Angesicht.
Der Wein steht in diesen Gedichten immer als Synonym für die Liebe.
In manchen seiner Gedichte drang er tief in die islamische Mentalität und Mystik ein, z.B. in dem das kleine Gedicht, das beginnt mit: "Im Atemholen sind zweierlei Gnaden", wo er davon dichtet, dass das Einatmen und das Ausatmen notwendig für das Leben sind, und das Gedicht endet:
"SO DANKE GOTT, WENN ER DICH PRESST,
UND DANKE GOTT, WENN ER DICH WIEDER ENTLÄSST."
Das ist ein Vers, den Goethe von Saadi übernommen hat, aber in seiner eigenen Art und Weise ausgedrückt. Darin kommt Goethes Glaube zum Ausdruck, dass das ganze Leben aus Gegensätzen, aus Systole und Diastole, aus Einatmen und Ausatmen besteht, dass es keine einheitliche Richtung gibt, sondern dass jedes Ausatmen ein Einatmen und umgekehrt in sich trägt. So hat Goethe mit seiner Aussage, dass das Leben aus Gepresstwerden und wieder Erleichtertwerden besteht, eine ihm und dem Islam eigene Wahrheit ausgesprochen, und er hat immer wieder, bis ans Ende seines Lebens, darauf hingewiesen. Ganz besonders mystisch wird seine Darstellung der Vereinigung mit der Einheit [tauhid] und Ergebenheit [taslim] in die Schönheit dargestellt am Beispiel des Schmetterlings:
"DER FALTER FLIEGT UM DAS KERZENLICHT,
BIS DER MORGEN ANBRICHT,
UND KEHRT ZU SEINESGLEICHEN ZURÜCK,
BERICHTET IHNEN VON DEM ZUSTAND DES GLÜCKS MIT LIEBLICHEM WORT,
DANN VEREINT ER SICH MIT DER KOKETTEN SCHÖNHEIT
BEGIERIG, ZUR VOLLKOMMENHEIT ZU GELANGEN.
ER BEGNÜGT SICH NICHT MIT IHREM LICHT,
MIT IHRER WARME NICHT, UND WIRFT SICH GANZ HINEIN,
UND SEINESGLEICHEN ERWARTEN SEINE RÜCKKEHR,
DAMIT ER IHNEN VON DER SCHAU BERICHTET,
DA ER SICH NICHT MIT DER KUNDE BEGNÜGT.
DANN VERSCHWINDET ER, VERMINDERT SICH, VERFLÜCHTIGT SICH,
BLEIBT OHNE SPUR, BLEIBT OHNE NAMEN UND ZEICHEN.
WESHALB SOLLTE ER ZU DEN FORMEN ZURÜCKKEHREN,
UND IN WELCHEM ZUSTAND, NACHDEM ER GEWONNEN HAT?
WER ZUR SCHAU GELANGT, BEDARF NICHT MEHR DER KUNDE,
WER ZUM GESCHAUTEN GELANGT, BEDARF NICHT MEHR DER SCHAU.
Einfacher zu verstehen ist diese Grundeinstellung in seinem bekannten Gedicht:
Närrisch, dass jeder in seinem Falle
Seine besondere Meinung preist!
Wenn Islam "Gott ergeben" heißt,
In Islam leben und sterben wir alle.
Im West-östlichen Divan wird auch Goethes Verhältnis zum Christentum und Islam im Vergleich deutlich, besonders ausgedrückt in seinem Gedicht zu den Evangelien:
Vom Himmel steigend Jesus bracht'
Des Evangeliums ewige Schrift,
Den Jüngern las er sie Tag und Nacht,
Ein göttlich Wort, es wirkt und trifft.
Er stieg zurück, nahm's wieder mit;
Sie aber hatten's gut gefühlt,
Und jeder schrieb, so Schritt für Schritt,
Wie er's in seinem Sinn behielt,
Verschieden. Es hat nichts zu bedeuten:
Sie hatten nicht gleiche Fähigkeiten;
Doch damit können sich die Christen
Bis zu dem Jüngsten Tage fristen.
Es gibt zu dem Thema auch ein Gedicht, das er nicht in den Divan mit aufgenommen hat, das aber im Nachtrag steht, und das er verfasst hat, als seine Freundin Marianne ein kleines Kreuz als Schmuck trug. Goethe mochte das Symbol des Kreuzes nicht. Es schien ihm unrecht, immer wieder auf das Leiden hinzuweisen, obgleich er wusste, dass es das Zentralsymbol der Kirche war. Aber er wollte es nicht sehen, und so schreibt er folgendes Gedicht:
Süßes Kind, die Perlenreihen,
Wie ich irgend nur vermochte,
Wollte traulich dir verleihen,
Als der Liebe Lampendochte.
Und nun kommst du, hast ein Zeichen
Dran gehängt, das unter allen
Den Abraxas seinesgleichen
Mir am schlechtesten will gefallen.
Diese ganz moderne Narrheit
Magst du mir nach Schiras bringen!
Soll ich wohl, in seiner Starrheit,
Hölzchen quer auf Hölzchen singen?
Abraham, den Herrn der Sterne,
Hat er sich zum Ahn erlesen;
Moses ist, in wüster Ferne,
Durch den Einen groß gewesen.
David auch, durch viel Gebrechen,
Ja Verbrechen durchgewandelt,
Wusste doch sich loszusprechen.
Einem hab ich recht gehandelt.
Jesus fühlte rein und dachte
Nur den einen Gott im stillen;
Wer ihn selbst zum Gotte machte,
Kränkte seinen heil'gen Willen.
Und so muss das Rechte scheinen,
Was auch Mahomet gelungen:
Nur durch den Begriff des Einen
Hat er alle Welt bezwungen....
Als wichtigster und wohl am häufigsten zitierter Vers aus dem Divan aber gilt sein Bezug auf den Vers im Heiliger Qur'an (2:115):
"GOTTES IST DER ORIENT, GOTTES IST DER OKZIDENT
NORD UND SÜDLICHES GELÄNDE, RUHT IM FRIEDEN SEINER HÄNDE.
ER, DER EINZIGE GERECHTE, WILL FÜR JEDERMANN DAS RECHTE.
SEI VON SEINEN HUNDERT NAMEN, DIESER HOCHGELOBET. AMEN."
Zum Ende seines Werks konnte Goethe selbst auch Arabisch schreiben. So sind in seinen Aufzeichnung z.B. einige Basmala sowie kurze von ihm abgeschriebene Suren erhalten. Siehe dazu z.B. seine Handschrift zum Gedicht: Vier Gnaden.
Eine Episode seines Ablebens verdeutlicht die besondere Beziehung zum Islam. So soll er während des Sterbens, nicht mehr Fähig zu sprechen, einen großen Buchstaben "W" mit seinem Finger auf seine Brust gezeichnet haben. Das wurde als Anfangsbuchstabe seines Vornamens gedeutet. Hingegen ähnelt das Wort ALLAH für einen Arabischunkundigen genau jenem "W".
Goethes Werke wurden in die Sprachen der Muslime übersetzt und sind in der islamischen Welt erschienen. Sehr intensiv hat sich Muhammad Iqbal mit Goethe auseinandergesetzt.