Die Sufis im Kaukasus
Die kaukasischen Naqschibandi-Sufis können eine fast zweihundertjährige Resistance gegen die Herrschaft der Russen, inklusive der Errichtung eines eigenen nordkaukasischen Emirates, belegen. Bis zu achtzig Prozent der Bevölkerung der islamisch dominierten Satellitenstaaten der Ex-Sowjetunion waren zeitweise Anhänger des Sufismus gewesen. Die Islam -Experten für Russland, Alexandre Bennigsen, Chatal Lemercier-Quelqeujay und Enders Wimbush, haben diese Lage so beschrieben:"Die Sufis in der Sowjetunion haben die Russische Aggression exakt zwei Jahrhunderte lang von 1783 an durchgehalten. In diesem Sinne galt der Sufismus den sowjetischen Muslimen als ein innewohnendes Versprechen, dass der Islam und nicht der gottlose Marxismus, die Zuflucht wahrer Menschen ist, und dass die letzte Schlacht zwischen ihnen zugunsten jener, die auf den Sieg des Glaubens setzen, entschieden werden wird." Auch im Nordkaukasus, den turkmenischen Steppen, im Ferghan Tal Zentralasiens und in jenen Gebieten, in denen die russische Eroberung auf massiven Widerstand stieß, spielten die Bruderschaften der Sufis, was Improvisation, Organisation und Kampfesführung betrifft, die führende Rolle. In diesen Gebieten glich die Sufi-Aktivität den gleichen Sufi-Aktivitäten in anderen Teilen der Welt: in Nordafrika gegen die Franzosen, in Java gegen die Holländer, im Pandschab gegen die Briten und Sikhs und in Xinjiang gegen die Chinesen. Die oben Genannten fahren weiter fort: "Während der Kultur-Revolution und der Zeit der Vierer-Bande in China gedieh, was nicht überrascht, der Sufismus auch in China."
"Sufismus ist ein Fakt, und ein potenter dazu in der Sowjetunion heute. Von den sowjetischen Planern wird er sehr ernst genommen, was auch wir sollten."
Aus einem vertraulichen Bericht des US-State-Department 1984
Zum Sufi könne man aus Gründen der Selbstverteidigung werden und sich mit der Aura verbotener Früchte umgeben, das seien zwei der wichtigsten Gründe für Menschen der Sowjetunion, die Lebensform des Sufismus zu teilen. Zu diesem Schluss kam eine unveröffentlichte wie auch geheime 250-seitige Studie, die das Auswärtige Amt der Vereinigten Staaten als Auftraggeber und Adressat als vertraulich einstufte. Die Sufis militant und heilig? In jedem Fall waren sie äußerst flexibel, wie dieselbe Studie feststellt. "Sufismus ist synonym mit der Resistance gegen Russland." Und die Sowjetunion habe gut daran getan, Sufi-Beobachter zu halten, denn (das war im Jahre '84!) "in den vergangenen Jahren, haben die Sufi-Bruderschaften eine Reihe sowjetischer Institutionen, wie zum Beispiel die Berufsstände oder die Dorfversammlungen, infiltriert und sind bemerkbar in solchen unerwarteten Plätzen wie in Gefängnissen, Camps und Militärberufen aktiv." Auch herrschte in der Sowjetunion Angst vor der sprichwörtlichen eisernen Disziplin mancher Sufis, was selbst Gorbatschow zu einer an die Länderregierungen gerichteten Warnung vor der "einzigen ernsten Gefahr für die Sowjetunion" stimulierte.
Wie war es historisch zu einer solchen Erheblichkeit des Sufismus im Südteil der Sowjetunion gekommen? Der Beginn dieser Entwicklung geht bis ins 12. Jahrhundert zurück, als in Zentralasien einige der bedeutendsten Sufi-Orden, wie die Kubrawiyye, Yessewiyye und die Naqschibandiyye gegründet wurden. In diesem Jahrhundert wurde die islamische Welt zum ersten Mal von ungläubigen Eindringlingen bedroht, den Qara Khitay im Osten, den Kreuzzüglern im Westen, und die Sufis übernahmen die Rolle der Verteidiger des islamischen Glaubens. Der Weg der Tarikat schwoll in dieser Zeit zu einer populären Massenbewegung einer organisierten Bruderschaft von geistigen Adepten an.[i] Im 13. Jahrhundert kämpften dieselben Sufi-Bruderschaften gegen die Mongolen und im 14. Jahrhundert waren es wiederum die Sufis, die dieses Mal den Boden für die Bekehrung zum Islam der mongolischen Khane bereiteten.
Im folgenden 15. Jahrhundert hat es dann eine dritte Welle einer Sufi-Expansion im Tartarengebiet Mittel-Wolga gegeben, während derer die Naqschibandiyye alle vorher existierenden Sufi-Tarikats im Wolga -Territorium absorbierte. Die Tarikat der Naqschibandiyye wurde schnell zur wichtigsten Sufi-Bruderschaft der späteren Sowjetunion. Von Buchara drang die Naqschibandiyye im 15. und 16. Jahrhundert bis tief in die Mittel-Wolga-Region ein, wo sie die Qadiris und Yessewis vollständig absorbierte. Im Laufe der Zeit war die Naqschibandiyye in beinahe allen Muslim-Regionen der UdSSR präsent. Im 17. Jahrhundert hatte dieser Sufi-Orden mit dem Heiligen Krieg (Dschihad) gegen die eindringenden buddhistischen Jungaren eine weitere historische Rolle auf den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion übernommen.
Die geistige Vorherrschaft der Naqschibandiyye über die anderen Bruderschaften kann dadurch erklärt werden, dass sie sowohl elitär als auch volkstümlich ist. Dazu kommt, dass die Naqschibandiyye eine einzigartige Fähigkeit zur Adaption sozialer und politischer Bedingungen besitzt. Für den Naqschibandi-Zögling gilt während der Reise zu Gott in der Welt tätig zu bleiben. Außerdem nimmt die Naqschibandiyye sprachlich und operativ gesehen den jeweiligen nationalen und Kulturcharakter seines Tätigkeitsgebietes an. Zudem hatte sie durch eine Reihe von Heiligen Kriegen, zum Beispiel gegen die buddhistischen Kalmücken in Turkestan im 17. und 18. Jahrhundert und gegen die Russen im Kaukasus, ein immenses Prestige in der Bevölkerung gewonnen. Sie besitzt zudem einen einfachen Ritus und eine gemeinsame Ideologie und ihre Aktivitäten sind durch die Heimlichkeit des Ordens geschützt. Wovon sein schweigender Sikr ein perfekter Ausdruck ist.[ii]
Vor allem die islamische Erhebung gegen die Russen im 18. Jahrhundert ist im islamischen Teil der späteren Sowjetunion zu einem politischen Freiheitssymbol und einem Identitätsereignis für die dortigen Muslime geworden. Der Name des Helden, den man mit diesem Ereignis verbindet, ist Mansur Uschurma, der aus dem Chechia-Gebiet stammte und durch Naqschibandis aus Buchara eingeweiht gewesen sein soll.
Unter der Führung Mansurs kam es im Jahre 1785 zu einem muslimischen Sieg. Nach seinem Sieg in der Schlacht am Sunzha-Fluss im Jahre 1785, wo Mansur eine komplette russische Brigade zerstört hatte, rief er die Bergbewohner zum Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen auf und vereinigte für eine Reihe von Jahren praktisch den ganzen Nordkaukasus, vom Territorium der Tscheschenen im Westen bis zu den kalmückischen Steppen im Westen. Er wurde schließlich von den Russen im ottomanischen Fort von Anapa im Jahre 1791 gefangen und als Rebell zu lebenslänglicher Haft verurteilt, wo er im Fort von Schlüsselburg zwei Jahre später starb.[iii]
Im 19.Jahrhundert übernahmen vor allem in den Tatar-Regionen von Mittel-Wolga, wo die Muslim-Gemeinschaft auf allen Gebieten von der überlegenen Präsenz der Russen herausgefordert und bedroht worden war, die Sufi-Orden die führende Rolle innerhalb der intellektuellen islamischen Renaissance. Besonders viele Naqschibandis waren in der vordersten Front der modernistisch-liberalen tatarischen Jadid-Reformbewegung zu finden, als deren Vater der Naqschibandi -Murid Abu Nasr al-Kurwavi (1783-1814) gilt und deren bedeutendster Vertreter Schihab ed-Din Marjani (1818-189), ein Naqschibandi-Murschid war.[iv] In Zentralasien waren viele Sufis auch in der Basmachi-Bewegung aktiv. Es scheint, dass auch zwei der berühmtesten Basmachi-Führer, Korschirmat und Dschunaid-Khan , Naqschibandis waren.
In diesem Jahrhundert, vor allem in der zweiten Hälfte, hat die Sufi-Bruderschaft der Qadiriyye eine wichtige Rolle bei der Islamisierung der Tscheschenen und Inguschen gespielt, ist aber auf dieses Gebiet beschränkt geblieben. In der UdSSR ist sie die radikalere und aggressivere der Sufi-Bruderschaften gewesen, wenn man nicht an die noch radikaleren geschlossenen Gesellschaften der Batal Hadsch und Vis Hadsch denken will.
Das Bild in Zentralasien weist zu dem bisher Gesagten große Ähnlichkeit auf, da man zugeben muß, dass Zentralasien maßgeblich durch die Aktivitäten der Sufi-Bruderschaften beeinflusst worden ist. In Turkestan zum Beispiel, das seit dem 9. Jahrhundert bis heute ein Grenzland der Welt des Islams (Dar-ul-Islam ) gewesen ist, wurden die wenigen bewaffneten Versuche, die russische Herrschaft abzuschütteln, ohne Ausnahme von Naqschibandis ausgeführt. Die Revolten unter Hodscha Ishan von Kulkara und dem Naqschibandi -Schaich Kurban Murat 1879 und 1881, sowie die Revolte von Andizhan im Jahre 1898, die von Mohammed-’Ali bzw. Medali Ishan angeführt wurde, gehören in diese Kategorie.
"Die Sufi-Tarikats stellen das innerste, reinste und unbeugsamste Element islamischer Nationalidentität dar."
aus: Islamisch-konservativer Dissenz in der Sowjetunion - Fundamentalistische Trends und Sufi-Bruderschaften
Auch der Beginn der kommunistischen Epoche rief Sufi-Widerstand auf den Plan. Nach dem August 1917 proklamierte ein Kongress von Daghestani -Ulama und religiösen Führern den Naqschibandi-Schaich Nadschmu-ed-Din von Hoto (auf russisch Gotsinski) zum Imam von Daghestan und Tscheschenien und nahm auf diese Weise die Tradition des nordkaukasischen Imamates wieder auf, das 1859 mit der Gefangennahme des Sufi-Führers Schamil beendet worden war. Während der tragischen Revolutionsjahre zwischen 1917 und 1921, die vor allem im nordöstlichen Kaukasus besonders blutig waren, spielten die Sufi-Bruderschaften eine zentrale Rolle. Das gilt insbesondere für den Orden der Naqschibandiyye , der wieder einmal an der vordersten Front der Aktivitäten war. Das Ziel dieser Tarikat war, die durch das Schari'ah-Gesetz beherrschte theokratische Monarchie wiederherzustellen, die Russen zu vertreiben und "unartige Muslime" zu liquidieren.
Ab 1918 hatten Imam Nadschmu-ed-Din von Hotoo und Usun Hadsch eine kleine Armee mit circa 10.000 Muriden zur Verfügung, die hauptsächlich Naqschibandi -Adepten waren und die beste Kampfeinheit des Nordkaukasus war. Mit diesen Truppen warf Usun Hadsch zuerst die Weißen Kräfte von Denikin zurück und besiegte sie schließlich in der Offensive im Sommer und Herbst 1919. Im Herbst des Jahres 1919 proklamierte er im befreiten Tscheschenien und im nordwestlichen Daghestan ein Nordkaukasisches Emirat . Die Revolte wurde jedoch 1925 niedergeworfen, als die Bolschewiken Imam Nadschmu-ed-Din und die zwei überlebenden Naqschibandi-Führer, Schaich Amin von Ansalte und Wahhab Astemirov , gefangennehmen konnten. Ihr verzweifelter Widerstand, die vom rein menschlichen Standpunkt aus offensichtlich hoffnungslos war, hatte eine ausschlaggebende Wirkung auf die Geschichte der ganzen muslimischen Welt.
"Während die Sufis in der Sowjetunion kämpften, versuchten die anderen Muslime vergeblich, zwischen den Bolschewiken und den Weißen Konterrevolutionären hin- und her zu manövrieren."
Alexander Bennigsen, Chandal Lemercier-Qeulquejay und Enders Wimbush
Interessant ist zu wissen, dass nahezu alle Ulama von Daghestan und Tscheschenien Mitglieder einer Sufi-Tarikat waren und der Muridismus in Daghestan vergleichbar den frühen christlichen Gemeinschaften war. In der Tat waren im Jahre 1925 70-80 Prozent aller Tscheschenen über achtzehn Jahre Mitglied eines Sufi-Ordens[vii] und in der Republik Daghestan gab es Ende 1920 61.200 Muriden, 19 Schaiche und 60 Wekile - bei einer Gesamtbevölkerungszahl von ungefähr 700.000. Noch 1981 wurden 39 Prozent der Tscheschenen als Tarikat-Adepten klassifiziert, und man kann sagen, dass bis heute das Territorium des nordöstlichen Kaukasus wahrscheinlich dasjenige ist, wo die organisierten mystischen Bewegungen am dynamischsten und aktivsten in der gesamten Muslim-Welt sind. Vor allem Daghestan ist jahrhundertelang der Sitz arabischer Kultur gewesen.[viii] Erst während des Winters 1923-24 entwaffnete die Rote Armee die Tscheschenen-Bevölkerung und liquidierte die "Banditen-Nester" wie man die Guerillakämpfer der Naqschibandiyye und die Qadiri -Untergrundkämpfer nannte. Was die Sufi-Bruderschaften vor allem in der Zeit der großen anti-religiösen Anstrengungen (1928-1939) veranlaßte, in den Untergrund abzuwandern.
Auch vor der Zeit des zweiten Weltkrieges haben, wie später während dieses Krieges, nur die Sufi-Bruderschaften für eine organisierte, disziplinierte und effiziente Kampfgruppe gegen das Sowjetregime gesorgt. Nach der erneuten Revolte in Tscheschenien wurde die gesamte tscheschenische Bevölkerung 1944 nach Sibirien deportiert. Doch auch danach ging die Guerillatätigkeit unter der Führung von Schaich Qureisch Belhoroev , dem letzten Sohn des Gründers der Batal Hadsch Tarikat weiter. Erst 1947 wurde er von sowjetischen Truppen gefasst und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Der durch die Deportation von über einer Million nordkaukasischen Muslims versuchte Genozid hatte jedoch eine schlagende und unvorhergesehene Wirkung. Weit davon entfernt, die Sufi-Bruderschaften zu zerstören, leistete sie tatsächlich ihrer Ausbreitung Vorschub.
In den späten 50er Jahren wurden die kaukasischen Sufis erneut einer systematischen und unbarmherzigen Verfolgung ausgesetzt. Die diesbezüglichen Gerichtsverfahren fanden vor allem in den Jahren 1958, 1963 und 1964 statt, wobei das übliche Strafmaß die Todesstrafe war. Sowjetische Quellen bezeugen, dass die administrativ-politische Repression nicht in der Lage war, die Ausbreitung der Sufi-Organisationen, die heute mächtiger und einflussreicher noch als vor dem Weltkrieg, und wahrscheinlich sogar vor 1917 erscheinen, zu unterdrücken. Denn mehr als die Hälfte aller muslimischen Gläubigen der autonomen Tscheschen-Inguschen-Republik waren noch 1975 Mitglieder einer Murid-Bruderschaft.
"Es war schwierig, Karl Marx mit dem "Hikmet" Achmed Yessewi s zu versöhnen."
Der Bolschewist Mambetaliev
Bis zur Auflösung der Sowjetunion waren vor allem vier Sufi-Bruderschaften in der Sowjetunion gegen diese aktiv. Die Naqschibandiyye , die Qadiriyye , die Yessewiyye und die Kubrawiyye. In den Medien der Sowjetunion wurden die Mitglieder dieser Orden per kommunistischem Agitprop als Banditen, Individuen, Feinde der Sowjetunion, nichtregistrierte Kleriker, Fanatische Gläubige, und die Orden als "paralleler Islam " und Untergrund-Parteien bezeichnet. Wobei der führende sowjetische Spezialist für anti-islamische Propaganda, Lucian Klimovich , erklärte, dass es in der UdSSR mehr Sufi-Kleriker als sonstige, offizielle registrierte muslimische Kleriker gab. Jedenfalls repräsentierten die Sufi-Orden im Nordkaukasus , in Kirgisien und in Teilen Kasachstans, und besonders in Turkmenistan , die Vorhut des nichtorganisierten Dissenzs. In ironischer Weise kann die Rolle der Sufi-Bruderschaften mit der der bolschewistischen Partei im Verhältnis zum bis dahin unorganisierten Proletariat des Sowjet-Regimes in seinen frühen Jahren verglichen werden.
Man geht im allgemeinen davon aus, dass vor allem die Qadiri -Gruppen mit konspirativen politischen Untergrundgruppen vergleichbar waren, und der Charakter der zentralisierten Sufi-Orden in der ehemaligen UdSSR überwiegend der einer geschlossenen Gesellschaft war. Tatsächlich waren und sind die sowjetischen Sufi-Orden jedoch keine Geheimgesellschaften, wie es beispielsweise die Freimaurer waren, und stellten auch keinen "parallelen Islam " oder sonstwie gearteten anderen Islam denn einen normativen Islam dar, worauf leider sowjetische Quellen auch heute noch insistieren. Nirgendwo nämlich weisen die Sufis die Schari'ah, die Gesetze des Islams, zurück. "Eher kann der Sufismus als eine tiefere Form islamischen Glaubens gelten, ein Sufi ist ein Muslim der mehr Verantwortung zeigt."[x] Zwar besitzen die Mitglieder von Murid-Gemeinschaften auch heute noch einen hoch entwickelten Sinn ihres Elitismus und ihrer Überlegenheit und glauben, dass sie eine lebenswichtige Aufgabe zu vollenden haben und Träger wahren Glaubens sind, doch ihrerseits griffen die Sufis das islamische Establishement niemals öffentlich an. Umgekehrt hatte die offizielle sowjetische Nomenklatura in der Tat den offiziellen Islam als Waffe gegen die Sufis benutzt. Die ersteren wurden zu Partnern der russischen Administration, wohingegen die letzteren, gerade weil sie sich der Kontrolle der russischen Autoritäten entzogen, als unversöhnliche Feinde betrachtet wurden.[xi]
Die wöchentlichen Treffen einer Gruppe von zehn bis zu vierzig Adepten zur Ausübung des Sikr unter einem geistigen Meister waren im allgemeinen die einzigen regulären kollektiven Obliegenheiten der sowjetischen Sufis. Die intellektuelle Energie der Adepten blieb starr auf den Meister fokussiert. Vor allem das Leben des fortgeschrittenen Muriden verwandelt sich in der Regel zu einem permanenten Gebet. Dieser ist geistig dauernd mobilisiert und beschäftigt sich mit einer intensiven spirituellen und mentalen Konzentration. Doch trotz ihrer Skepsis und ideologischen Vorverurteilung, die die sowjetischen Behörden und Ideologen den geistlichen Übungen der Sufis entgegenbrachten, konnten sich die sowjetischen Spezialisten, die Zeuge eines Sikr gewesen sind, seiner hohen emotionalen und ästhetischen Qualität meistens nicht entziehen. Wie mehr als nur einer jener "Sufi -Beobachter" selbst zugeben musste, besitzt nämlich der Sikr eine außerordentlich intensive emotionale Färbung, der die latente religiöse Passion vehement stärkt[xii]. Noch stärker als dieser wirke der schweigende Sikr, der ein geistiges Kraftfeld sondergleichen erzeugt.
S. Umarov hat hierzu bemerkt, dass vor allem im Nordkaukasus der eigentlich schweigsame Naqschibandi-Sikr mit Gesängen und Hymnen und einem Dialog zwischen dem Sikr-Leiter und den übrigen Teilnehmern aufgefüllt wird. Bei dieser Form des Sikr werden auch die nationalen Sufi-Helden wie Schamil und andere aufgerufen, so dass seine geistige Funktion von einer politischen Funktion begleitet wird. "Insbesondere hilft die Psychologie der Sufis dabei, dem um sich greifenden anti-russischen Nationalismus eine fundamentalistische Einfärbung zu geben, und gleichzeitig präsentiert sie den Sufi -Islam als den besten und beinahe einzigen Verteidiger nationaler Unabhängigkeit. Aus diesem Grunde sind die Sufi-Bruderschaften genau am Kreuzungspunkt nationaler Ereignisse und der islamischen Religion platziert, wobei die Sufis den Geist des Islams über enge nationale Identitäten stellen und ideologisch gesehen zurückhaltend sind. Die Sufis haben es nicht nötig, sich Nicht-Muslimen aufzudrängen."[xiii]
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass vor der Revolution die Sufi-Bruderschaften im russischen Imperium allein auf männliche Mitglieder limitiert waren, nach dem 2. Weltkrieg, wenn auch zum Teil in besonderen, von Sufi-Frauen geleiteten Gruppen, im Nordkaukasus und in Zentralasien auch Frauen zugelassen wurden. Daher überrascht es nicht, die (damals) "jüngsten" Zahlen der sufisch orientierten Bevölkerung in der Ex-Sowjetunion zu hören: 1979 betrug die Gesamtbevölkerung Zentralasiens etwa siebenundzwanzig Millionen Menschen, wovon nahezu drei Millionen offiziell ganz eng zum Sufismus gehörten.
In der Sicht der hier ausführlich angeführten Studie besaßen im übrigen die Sufi-Heiligengräber die wichtigste strategische Position. Heiligengräber als Waffen im Kampf? Die These macht Sinn. Aus dem Erfolg des Wirkens der Sufis in der Sowjetunion insgesamt zieht der russische Gelehrte Prof. Mallitski jedenfalls einen erstaunlichen Schluss: "Wenn man die Unverrückbarkeit des offiziellen islamischen Dogmas als gegeben annimmt, dann müssen sich zwangsläufig alle intellektuellen Bewegungen in der muslimischen Welt mit der Flagge des Sufismus bedecken. Die Renaissance des Islam kann nur unter seinem Einfluss stattfinden. Jede neue Idee und jede politische wie religiöse Bewegung - sei sie revolutionär oder reaktionär - wird sich in die Flagge des Sufismus hüllen."
"Zwar hat sich der Sufismus in der UdSSR gemäß dem dortigen politischen Milieu entwickelt, doch ist der Sufismus in sich ein weltweites Phänomen. Sufismus ist das, was zu verschwinden sich weigert."
Aus einer Studie des Auswärtigen Amts der USA
Klingt nicht Mallitskis Satz wie ein versetztes Echo des bekannten Historikers Le Chantelier , der 1888 gesagt hat "Das Beharren auf der Vitalität des mystischen Islam scheint notwendig zu sein. Es ist ausschließlich nur dieser Islam, der im 19. Jahrhundert das religiöse aktive Prinzip in Nordafrika ist"?
Sheikh Hussein Abdul Fattah, 07.02.2003