Eine der zahlreichen Sufi-Bewegungen waren die 'Ikhwan as-safa, die „lauteren Brüder“ von Basra, die sich im 10. Jahrhundert intensiv, beeinflusst von neuplatonischem sowie pythagoreischem Gedankengut, mit Buchstaben und deren Zahlenwerten befassten. Für sie konnte man über Zahlen die tieferen Zusammenhänge der Welt erkennen. Die Zahl nahm also eine Mittlerstellung zwischen Gott und dem irdischen Dasein ein. Die Eins und ihre Beziehung zu den anderen Zahlen setzte man mit der Beziehung Gottes zur Welt gleich. Da im arabischen Alphabet (wie auch im hebräischen) jeder Buchstabe einen Zahlwert hat, konnte man die vielfältigsten Operationen durchführen.
Von der Koranexegese, der Zukunftsvoraussage bis hin zur Verwendung im literarischen Kontext wurde von solch kabbalistischen Operationen im Mittelalter reichlich Gebrauch gemacht. Beispielsweise wurden die Buchstaben und ihre Zahlwerte von Koranseiten gezählt, um bestimmte Wörter, Namen und Orte herauszufinden. Außerdem bestand eine wesentliche Praktik, um sich dem Göttlichen meditativ anzunähern, darin, bestimmte Koranverse, Aussprüche, Gottesnamen (davon gibt es neunundneunzig kanonische Namen), etc. zigfach zu wiederholen. Dem Zahlenwert dieser rituellen Wiederholungen ( dhikr ) kam dabei eine besondere Bedeutung bei.
Hier nun einige Beispiele für die Bedeutung der Zahlen im islamisch-mystischen Kontext:
Die Eins:
Sie ist natürlich eine ganz fundamentale Zahl im monotheistischen Islam. Der Zahlwert Eins entspricht dem ersten Buchstaben des arabischen Alphabets alif . Und das Wort Allah beginnt mit dem alif . Eigentlich sei es schon, genug diesen Buchstaben mit seinem Zahlenwert zu kennen, denn wer den einen Gott kennt, benötige nichts anderes mehr, so die islamischen Mystiker.
Der Buchstabe alif war der göttliche Buchstabe schlechthin. Meditationen der Sufis konzentrierten sich auf diesen ersten Buchstaben des Alphabets, dessen schlanke vertikale Linie mit der Gestalt des Geliebten (metaphorisch für Allah) verglichen wurde.
Die Zwei:
Sie ist die Zahl der Schöpfung. Sie drückt Polarität aus (Mann und Frau, Ein- und Ausatmen, Systole und Diastole des Herzschlags, etc.). Der Zahlwert Zwei entspricht dem Buchstaben b . Sowohl die hebräische Bibel beginnt mit diesem Buchstaben ( be reschith , „Im Anfang...“) als auch der Koran mit der Formel bismillah , „Im Namen Gottes“. Beide heilige Schriften werden der Welt also durch diesen Buchstaben mitgeteilt.
Für die Einzigartigkeit des Korans gibt es eine interessante Interpretation von Sana'i. Der erste Buchstabe des Korans ist das b und der letzte das s . Daraus entsteht das persische Wort bas das „genug“ bedeutet. Soll heißen, der Koran ist alles, was der Mensch benötigt.
Die Fünf:
Unsere lauteren Brüder von Basra gingen davon aus, dass der gesamte Islam auf der Zahl Fünf beruhe. So basiert der islamische Glaube auf fünf Säulen (Glaubensbekenntnis, Gebet, Fasten im Ramadan, Almosensteuer und Pilgerfahrt nach Mekka). Fünfmal soll der Muslim am Tag beten, und früher teilte man erbeutete Ware in fünf Teile auf. Das islamische Recht operiert mit fünf religiös-ethischen Kategorien, nämlich: Pflicht, empfehlenswert, indifferent, verwerflich, verboten. Außerdem kennt der Islam fünf gesetzgeberische Propheten (Noah, Abraham, Moses, Jesus, Muhammad), und die rätselhaft isoliert stehenden Buchstaben am Beginn von 29 Suren, die Generationen von Mystikern inspirierten, sind nie mehr als fünf.
Um sich vor dem bösen Blick zu schützen, benutzt man die Hand Fatimas (fünf Finger) und tätigt den Ausspruch Khams fi ‘ainak , was so viel heißt wie „Fünf in dein Auge“.
So gibt es auch ein magisches Quadrat, das um die Zahl Fünf gruppiert ist:
Die Mystiker nehmen an, dass die in diesem Quadrat in Zahlwerten ausgedrückten ersten neun Buchstaben des Alphabets diejenigen Buchstaben sind, die Adam offenbart wurden. Die Summe der Vertikalen, Horizontalen und Diagonalen ergeben immer die Zahl fünfzehn. Die geraden Zahlen in den Ecken werden als buduh , gelesen, der Name eines Geistes. Dieses Wort steht im islamischen Kulturkreis oft auf Mauern und Hauswänden, um ein Gebäude zu schützen. Magischen Quadraten wurden besondere Kräfte nachgesagt. Zum Beispiel legte man entbindenden Frauen bestimmte Quadrate auf den Körper, um die Geburt zu erleichtern. In der Türkei und in Indien wurden Schutzhemden mit magischen Quadraten versehen, um die Gotteskrieger zu beschützen. Diese Hemden mussten von vierzig Jungfrauen genäht werden, um ihre Wirksamkeit zu entfalten.
Das Anfertigen solcher Quadrate wird zum Beispiel in dem Werk al-Bunis Schams al-ma'arif , einem Lehrbuch über die Geheimwissenschaften aus dem 13. Jahrhundert, erklärt.
Die Vierzig:
Die Zahl Vierzig ist ebenfalls eine besondere Zahl. Sie ist die Zahl der Vorbereitung. Der Anfangsbuchstabe des Prophetennamen Muhammad entspricht dem Zahlwert Vierzig und wird dadurch zur Prophetenzahl. Nach der islamischen Mystik trennen den Menschen vierzig Stufen von Gott. Der himmlische Name des Propheten Ah,mad unterscheidet sich von dem Wort Ah,ad , „Einer“ nur durch ein m , welches wiederum dem Zahlwert Vierzig entspricht. Deshalb ist die vierzigtägige Klausur ( chilla ) eine wichtige Übung für den Sufi, in der er sich meditativ Gott annähern will. Oft werden besonders musterhafte Sufis nach ihrem Tod durch einen Nachruf geehrt, der besagt, sie hätten mit ihrem Tod die vierzigste Klausur vollzogen. Die Almosensteuer, eine Säule des Islams, verlangt ein Vierzigstel des Vermögens, und mittelalterliche Schriften, wie zum Beispiel Ghazzalis Wiederbelebung der Wissenschaften von der Religion , sind in vierzig Kapitel eingeteilt, die den Gläubigen durch Instruktionen auf die Begegnung mit Gott im Tod und die mystische Liebe vorbereiten sollen.
Die Sechsundsechzig:
Summiert man den Zahlwert des Wortes Allah kommt man auf die Zahl sechsundsechzig. Sieht man auf Bildern oder Kunstgegenständen den Buchstaben waw , dessen Zahlwert sechs beträgt, deutet das entweder auf Allah hin oder die zwölf Imame der Schiiten (visuell 6 und 6 = 66; mathematisch 2 mal 6 = 12).
Die Sufi-Bewegung der Hurufis ( ,huruf = Buchstaben), die im 14. Jahrhundert von ihrem Führer Fadlullah Asterabadi im Iran gegründet wurde, trieb solche kabbalistischen Zahlenspekulationen bis auf die Spitze. Für die Hurufis waren die Buchstaben gleichbedeutend mit Gott, ja, er manifestierte sich geradezu im Wort. Die noch heute existierende Bektashi-Bruderschaft wurde von diesen Gedanken maßgeblich beeinflusst. Für die Hurufis zeigen sich die Buchstaben sogar im menschlichen Gesicht. So gibt es die Vorstellung, dass das Gesicht einem herrlich gestalteten Koran ähnelt. Das mim ? steht für den Mund, die Augen sind entweder ein sad ? (wegen ihrer mandelförmigen Gestalt) oder ein ‘ain ? (bedeutet auf arabisch Auge). Locken werden durch lange beziehungsweise sich krümmende Buchstaben wie dal ? oder lam ? dargestellt.
Also bedienten sich die Sufi-Meister kryptischer Briefe voller Anspielungen, um die oft weit verstreuten Schüler zu instruieren. Auch die sufische Lyrik ist voller Symbolik und Verschlüsselungen, die es dem Uneingeweihten fast unmöglich machen, auf den wahren Sinn der Aussagen zu stoßen.
In einem seiner Gedichte macht der berühmte Dichter Nizami eine Anspielung auf diese geheime Sprache:
„Es wird eine Zeit kommen, in der unser Stempel eine neue Münze prägen wird. [Die Rede des Sufi] gehört keiner der bekannten Sprachen an. Unter der Zunge des Dichters liegt der Schlüssel zu dem Schatz. Der Prophet und der Dichter sind der Kern, Schale die anderen .“
Titel und Autorenname wurden nie ohne Bedacht gewählt, da der eingeweihte Sufi darin einen Hinweis bekam, auf was er in der Schrift achten sollte und was es dort für ihn zu entdecken gab. So wollte ein Autor vielleicht darauf hinweisen, dass in seinem Buch besondere Hinweise verborgen sind; also wählte er zum Beispiel den Titel Umm el Qissa (Mutter der Geschichte oder Quelle der Aufzeichnung). Daraus erhielt er den Zahlwert 267. Nun musste er einen poetischen Titel finde, der den gleichen Wert hatte. So kam er auf Alf layla wa layla , was wir im Westen unter Geschichten aus Tausendundeiner Nacht kennen. Der chiffrierte wahre Titel Umm el Qissa sollte dem Eingeweihten mitteilen, dass in diesem Werk Geschichten von allgemeiner Bedeutung für den Sufi sind.
Wie die Entschlüsselungsmethode funktioniert, kann man schön an dem Wort Sufi demonstrieren. S=90, U=6, F=80, Y=10 = 186. Man teilt diese Zahl nun auf in Hunderter, Zehner und Einer und kommt auf 100 = Q, 80 = F, 6=U. Man kann diese drei Radikale nun zum Wort FUQ anordnen, was soviel wie „oberhalb, transzendierend“ bedeutet. Der Sufismus wird auch als Philosophie der Transzendenz bezeichnet