Maqâm Shâh Naqshbands
Die Naqshbandiyya, eine mystische Bruderschaft, entstanden im 14. Jh. in Zentralasien und in den folgenden Jahrhunderten weit verbreitet.
Sie spielte eine wichtige Rolle in islam. Reformbestrebungen im 17. und 18. Jh. und gehört bis heute zu den bedeutendsten mystischen Gemeinschaften im Islam. Die Gründungsfigur, Bahâ' ad-Dîn Naqshband (1318-1389) aus Buchara, steht in einer Reihe berühmter zentralasiat. "Meister" (pers. khwâjagân), die bis ins 12. Jh. zurück reicht und aus der auch andere mystische Gemeinschaften hervorgingen.
Der "Weg der Meister" (pers. Tarîqa-yi khwâjagân), der tadschik. wie turkmen. Muslime anzog, bildete ein wichtiges Element sozialer Integration im zentralasiat. Islam, besonders unter der Herrschaft Tîmûrs und seiner Nachkommen (ca. 1370-1507) in Samarkand, Buchara und Herat.
In diese Zeit fällt auch der Aufstieg der Nachfolger Naqshbands, deren Gemeinschaft, die Naqshbandiyya, in den folgenden Jahrhunderten die übrigen Gruppen teils verdrängte, teils in sich aufnahm.
Die mystische Praxis der Naqshbandiyya beruht auf der engen emotionalen Bindung (arab. râbita) des Schülers an den Meister, dessen Bild sich in der Meditation dem eigenen Herzen einprägen soll. Zwischen beiden wird auch in der Abwesenheit eine starke innere Beziehung gepflegt. Der Meister vertritt den Propheten und soll durch ihn die Präsenz Gottes immer tiefer im Herzen des Schülers verankern.
Im Mittelpunkt der Lebensführung stehen elf Grundprinzipien, von denen acht bereits auf den "Weg der Meister" zurückgehen. Es wird ein lautloser Dhikr praktiziert, der mit der bewussten Kontrolle von Atem und Gedanken sowie mit der regelmäßigen Rechenschaft über die eigenen Taten verbunden ist.
Die Konzentration auf das Gottesgedenken soll auch das Alltagsleben durchdringen und schließlich zur "Einsamkeit in der Menge" und zur inneren "Reise in der Heimat" führen. Das innere Leben ist dabei von einer minutiösen Ausrichtung an den Normen der Scharia begleitet. Die Naqshbandiyya zeigte sich mit ihrer Tendenz zur religiösen Durchdringung des Alltags und zur kontrollierten Lebensführung als weltzugewandte Gemeinschaft, die in vielen Gebieten großen polit., wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss gewann.
Zu ihren berühmtesten Vertretern zählten Khwâja Ubaid Allâh Ahrâr (gest. 1490), der mit seiner zahlreichen Anhängerschaft und seinen ausgedehnten und wohlorganisierten religiösen Stiftungen zu den mächtigsten Männern im tîmûrid. Zentralasien gehörte, sowie Abd ar-Rahmân Jâmî (gest. 1492), der bedeutendste pers. Dichter seiner Zeit.
Auf dem indischen Subkontinent konnte sich die Naqshbandiyya unter der Herrschaft der tîmûrid. Moguln ebenfalls großen Einfluss verschaffen. Hier begründete Ahmad Sirhindî (gest. 1624) eine eigene Gemeinschaft, die ihn als islam. "Erneuerer" (arab. mujaddid) des zweiten islam. Jahrtausends ansah und die schließlich auch in den Heiligen Stätten und im Osman. Reich viele Anhänger fand.
Seit dem 18. Jh. hat diese Mujaddidîya die übrigen Zweige der N. weitgehend überlagert. Ihre Anhänger waren maßgeblich an den ersten Bemühungen zur Reform des Osman. Reiches im frühen 19. Jh. beteiligt.
Die heutigen Affiliationen der Naqshbandiyya im Nahen Osten gehören weitgehend zur Khâlidîya. Diese geht auf Maulânâ Khâlid al-Baghdâdî (gest. 1827) zurück, einen Scheich der Mujaddidîya kurdischer Herkunft, der sich schließlich in Damaskus niederließ. Seine Schüler und Nachfolger machten sie zur populärsten Bruderschaft in Anatolien, Kurdistan und schließlich auch im Kaukasus (Daghestan, Tschetschenien), wo die Imâme der jihâd-Bewegung im Kampf gegen das Zarenreich (1830-59) eng mit der Khâlidîya verbunden waren.
Die Naqshbandiyya spielt bis heute eine bedeutende Rolle im religiösen Leben im Nahen Osten, insbesondere in der Türkei, wo sie trotz des offiziellen Verbotes der Bruderschaften auch öffentlich mit einigen erneuerten Zentren und Bewegungen präsent ist und wo prominente Politiker wie Turgut Özal und Necmettin Erbakan enge Beziehungen zu dem Naqshbandî-Scheich Mehmet Zahid Kotku (gest. 1980) unterhielten.
Auch die Bildungsbewegungen der Nurcu Cemaat und der Süleymanci haben ihre Wurzel in der Naqshbandiyya. In Syrien stand der Großmufti des Landes, Ahmad Kaftaru, an der Spitze eines eigenen Zweiges dieser Bruderschaft, mit einem großen internationalen Bildungszentrum in Damaskus. In Deutschland wie in den USA sind besonders die Anhänger des zypriot. Scheichs Muhammad Nazim al-Haqqani (geb. 1922) aktiv. Er verfügt über einen größeren Zirkel deutscher Konvertiten zum Islam, die einen eigenen Verlag unterhalten und seine Schriften in deutscher Übersetzung herausbrachten.
In den USA ist er mit einer eigenen Stiftung, der "Haqqani Foundation", vertreten, die verschiedene Niederlassungen, einen Verlag und ein eigenes Studienzentrum in Michigan unterhält.
In Usbekistan hat das histor. Erbe der Naqshbandiyya nach dem Ende der Sowjetunion eine bedeutende Aufwertung erfahren. Ihre Ethik wird von offizieller Seite als zentrales Element der nationalen Kultur und als einheim. Gegengewicht zu internationalen islamist. Strömungen herausgestellt und propagiert. Das Grab von Bahâ' ad-Dîn Naqshband bei Buchara ist zum Nationaldenkmal geworden; zugleich dient es mittlerweile als internationales Pilgerzentrum für Naqshbandîs aus aller Welt.
Grab von Shah Naqshband
Literatur:
Böttcher, A.: Syrische Religionspolitik unter Asad, 1998.
Meier, F.: Zwei Abhandlungen über die Naqsbandiyya, Bd. 1: Die Herzensbindung an den Meister, Bd. 2: Kraftakt und Faustrecht des Heiligen, 1994.
Özdalga, E. (Hg.): Naqshbandis in Western and Central Asia. Change and Continuity, 1999.
Paul, J.: Die politische und soziale Bedeutung der Naqsbandiyya in Mittelasien im 15. Jahrhundert, 1991.
Autor/Autorinnen:
Stefan Reichmuth, Prof. Dr., Universität Bochum, Islamwissenschaft
Quelle:
Elger, Ralf/Friederike Stolleis (Hg.): Kleines Islam-Lexikon. Geschichte - Alltag - Kultur.
München: Beck 2001.
Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2002.