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Sufis in Afghanistan
Mazar i-Sharif / Afghanistan
Die Bedeutung des Wortes leitet sich vom arabischen Suf („Wolle“) ab und spielt auf das Wollgewand des frühen asketischen Mystikers an. Sie ist eine Bezeichnung für die islamische Mystik. Islamische Mystik ist weder auf eine bestimmte Glaubensrichtung (Sunna oder Schia) oder auf eine bestimmte Region beschränkt. Ihr entspricht keine systematische Lehre, sondern eine Lebensweise bzw. eine Grundhaltung, die nach dem inneren Sinn des Islam sucht. Äußerlichkeiten wie die genaue Einhaltung religiöser Regeln treten dabei in den Hintergrund. In manchen sufischen Richtungen kann diese Geringschätzung von Äußerlichkeiten auch dazu führen, dass ganz zentrale muslimische Ge- und Verbote nicht eingehalten werden (z. B. das Verbot, Alkohol zu trinken!).
Am Beginn des Sufismus standen einzelne Weise, meist asketische Gottsucher, wie sie in ähnlicher Form in allen Religionen zu finden sind. Mit der Zeit organisierten sich die Vertreter der Sufik in Orden, sie fanden ihren Platz in Gesellschaft, Kultur und Politik und wurden zu einer institutionell verankerten Einrichtung.
In Afghanistan (und in ähnlicher Weise in Zentralasien, Pakistan, Indien und Iran) ist der Sufismus eng mit dem Verhältnis zwischen heiligen Männern (Pirs) und ihren Schülern bzw. Anhängern verbunden. Das Kriterium dafür, wer „Pir“ ist, ist lediglich jenes, dass es Anhänger gibt, die ihn als Pir verehren. Der Pir kann dabei einem der großen Sufi-Orden angehören, er kann der Leiter einer örtlichen Ordensniederlassung sein, er kann aber auch als unabhängiger Weiser Schüler um sich scharen. Manche Pirs erben ihren Titel von ihren Vorfahren, andere werden aufgrund ihrer Funktion in einem Orden oder ihrer Ausstrahlung und mystischen Kompetenz Pir genannt.
Besondere Pirs werden verehrt, zu Lebzeiten und besonders nach ihrem Tod. So ist die Wallfahrt zu einem der vielen Heiligengräber das auffälligste Merkmal des Sufismus in Afghanistan.
Die Pirs werden in der Regel von ihren Anhängern finanziell unterstützt oder können über religöse Stiftungen verfügen. Sie können aufgrund der hohen Achtung, die sie genießen, und z. T. wegen ihrer finanziellen Unabhängigkeit auch hohe gesellschaftliche und politische Bedeutung erlangen. Das traf insbesondere auf die Zeit während der Wirren der Kolonialkriege Mitte des 19. Jh. zu.
Manche Familien üben durch ihr Naheverhältnis zum Herrscher bzw. zur führenden politischen Elite auch einen beträchtlichen direkten Einfluss auf die Politik aus (sog. „offizieller Sufismus“): Ihre bekanntesten Vertreter sind Angehörige der Familien der Gilanis und der Mudjaddidis.
Sufismus ist in Afghanistan auch eng mit (mystischer) Poesie verbunden: Viele Sufis sind zugleich Dichter, die Grabstätten berühmter Dichter zählen zu den beliebtesten Wallfahrtsorten, und Anhänger des Sufismus versammeln sich in den zahlreichen literarischen Zirkeln.
Sufische Milieus sind im Gegensatz zum orthodoxen Islam wesentlich offener für volksreligiöse Elemente, die auch in Afghanistan in die islamische Religiosität Eingang gefunden haben.
Andere Vertreter des Islam in Afghanistan sind
(a) die Ulamas, Religionsgelehrte mit guter theologischer Ausbildung; sie arbeiten als Richter, Muftis (religiöse Richter) oder Imame (Vorsteher großer Moscheen); afghanische Reformpolitiker hatten ohne ein positives Urteil des „Rats der Ulamas“ kaum Chancen, ihre Reformvorhaben gegenüber der Bevölkerung durchzusetzen;
(b) Sadat (sg. Sayyid), Nachkommen des Propheten;
und (c) Mullahs, Dorfgeistliche mit niedriger theologischer Bildung, die meist als Moscheevorsteher in kleinen Orten arbeiten, dort für die Überwachung der Moral zuständig sind, von den Einwohnern bezahlt werden (in armen Dörfern übernehmen oft schriftunkundige Bauern dieses Amt) und kein sehr hohes Ansehen genießen. Dabei sind die Grenzen innerhalb dieser Ämter und zwischen diesen Ämtern und den Vertretern der Sufik nicht selten fließend: z. B. kann ein Pir auch gleichzeitig Mullah sein.
Die drei wichtigsten Sufi-Orden in Afghanistan sind
- Qadiriya: eher orthoprax (in Übereinstimmung mit dem islamischem Recht); hauptsächlich in Städten; in der ganzen islamischen Welt verbreitet;
- Chishtiya: der populärste Orden am indischen Subkontinent; eher am Land; große Bedeutung von Armut, Musik und Tanz als Praktiken mystischer Versenkung
- und Naqshbandiya: in vielen islamischen Staaten; eine Art spirituelle Elite, enge Verbindung mit den Religionsgelehrten (Ulamas); orthoprax; große Bedeutung im antirussischen Widerstand z. B. in Tschetschenien.
Die Orden bieten ihren Migliedern ein religiöses Netzwerk gegenseitiger Beziehungen und Abhängigkeiten. Meist verdienen sich die Mitglieder dieser Orden ihren Lebensunterhalt in ganz normalen Berufen. Trotz beträchtlicher Unterschiede in Lehre und Verhaltensregeln (z. B. verbietet die Naqshbandiya den Heiligenkult) gehört ein Afghane nicht selten mehreren dieser Orden zugleich an.
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