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  Weisheitssprüche - Hikam
 




Weisheitssprüche - Hikam


Grab von Sheikh Ibn Ataullah al-Iskandari Ash-Shadhili in Kairo


PROF. Schimmel bemerkte zu diesem Buch: Ibn Ataullah, der Meister der geschliffenen mystischen Aphorismus, schrieb seine "Worte der Weisheit", HIKAM, im späten 13. Jahrhundert in Ägypten, und seither haben diese kurzen, klangvollen Sprüche Millionen von Menschen in der islamischen Welt Trost und Mut geschenkt. Er hat in seinen Sprüchen und Gebeten ständig auf die Größe und Majestät des ewigen Gottes hingewiesen, vor dem der Mensch in Anbetung und Gehorsam steht und dem er immer aufs Neue Dank schuldet - Dank für die Gabe, Dank aber auch für den Entzug; denn wer Gott wirklich kennt und ernstlich liebt, weiß, dass gerade in den dunkelsten Augenblicken die Nähe des Herrn oft stärker wirksam ist als in Momenten überströmenden Glücks.


Erster Weisheitspruch:


UNENDLICHKEIT ist die Heimat, aus der Allah die Seele gebracht und dann wieder durch die Zunge Seines Gesandten MHMD – Allah segne ihn und gebe ihm Heil – aus ihrer Verbannung zurückgerufen hat. Die Aufgabe der traditionellen islamischen Spiritualität ist es auf diesen Aufruf zu antworten und das Herz aus der Enge des Ich in die Unbegrenztheit des Wissens und der Liebe zum Göttlichen zu erheben.

Viel ist über das Sûfitum gesprochen und geschrieben worden, doch kann man diesen Wissenszweig wohl am ehesten im Zusammenhang verstehen, weshalb ich mit den Weisheitssprüchen aus dem klassischen Handbuch der geistigen Entwicklung des ägyptischen Meisters Ibn `Atâ’i-Llâh beginnen möchte. Es ist das „Buch der Weisheiten“, das al-Hikam al-`Atâ’iyya das ich zusammen mit einem Kommentar übersetzen möchte. Ibn `Atâ’i-Llâh raDiy-Allahu-anhu.gif – möge Allah an ihm Wohlgefallen haben – schrieb für jene, die einem Tarîqa

1. Ein Kennzeichen dafür, daß man noch auf eigene Werke vertraut, ist, daß sich bei einem Fehltritt die Hoffnung vermindert.*

Das Buch beginnt mit diesem grundlegenden Weisheitsspruch, weil es zur Adab oder der „richtigen Verhaltensweise“ des Beschreitens des spirituellen Pfades gehört, sich auf den Tauhîd oder die „Göttliche Einheit“ zu konzentrieren, was hier heißt, sich auf Allah zu verlassen, nicht auf [die eigenen] Werke, da

d.h. einen wirklichen Pfad und Scheich folgen, obgleich seine Worte auch andere interessieren können. Er sagt:
„Wo doch Allah euch erschaffen hat und das Werk eurer Hânde“
(Qur’ân, Sûre 37 as-Sâffât, Vers 96)

Die Methode des geistigen Aufstiegs ist dreifach und besteht aus dem Wissen (`ilm), dem Handeln (`amal) und dem sich daraus ergebenden Zustand (hâl), der von Allah gewährt wird.

Das Wissen bedeutet hier alles, was uns durch den Propheten MHMD Allah segne ihn und gebe ihm Heil – übermittelt worden ist und was den Inhalt des Göttlichen Gesetzes oder der Scharî`a ausmacht. Die Anwendung dieses Wissens, innerlich und äußerlich, mit Herz und Gliedern, ist der geistige Pfad oder die Tarîqa. Der sich daraus ergebende Zustand, daß man das Herz Allah nahebringt und so Ihm nahekommt, ist das Dämmern der Göttlichen Gegenwart über der Seele, was bei den Sûfîs als „höchste Wirklichkeit“ oder Haqîqa genannt wird.

Als Führer des geistigen Weges behandelt Ibn `Atâ’i-Llâh in diesem Werk den zweiten Moment dieses Aufstiegs, desjenigen der Verhaltensweise und der Werke. Daher läßt er zu Beginn seines Buches den Reisenden wissen, daß sein geistiger Fortschritts allein in Allahs Hand liegt. Ist man entmutigt bei den unvermeidlichen Fehlern, die man auf dem Pfad macht, so ist dies ein Indiz dafür, daß man sich mehr auf seine Taten verläßt als auf Allah.

Die Werke bringen einen nicht zum erstrebten Ziel des Pfades, sei es Gebet, Dhikr oder Allahs „Gedenken“, Jihâd oder Fasten, sie sind lediglich – für den Pfadbeschreiter – angemessene Verhaltensweisen vor der Majestät des Göttlichen. Es ist gerade so, wie wenn man sein Netz im Meer auswirft, dies allein aber noch keine Fische fängt, sondern daß man es dort lassen muß, so daß, wenn Allah die Fische kommen läßt, sie gefangen werden können; ebenso sind Werke wie ein Netz und ihre geistige Belohnung kommt von Allah. Abû Huraira raDiy-Allahu-anhu.gif Allah habe Wohlgefallen an ihm – hörte den Propheten MHMD Allah segne ihn und gebe ihm Heil – sagen:

„Niemand von euch wird durch seine Werke gerettet werden.“ Jemand fragte: „Auch du selbst nicht, oh Allahs Gesandter?“ Worauf dieser erwiderte: „Nicht einmal ich selbst, außer wenn Allah mich mit Seiner Barmherzigkeit umfaßt. Aber bemüht euch, das Rechte zu tun und zu sagen.“

Imâm an-Nawawî kommentiert:

„Der äußere Sinn dieser Hadîthe [n: Muslim überliefert mehrere] bekräftigt den Standpunkt der islamischen Orthodoxie, daß niemand für seine Gehorsamstaten eine Belohnung oder das Paradies verdient. Was Allahs – des Allerhöchsten – Worte betrifft: { Geht in den (Paradies)garten ein für das, was ihr zu tun pflegtet! }(Qur’ân, Sûra 16 an-Nahl 32) und { Siehe, das ist der (Paradies)garten. Er ist euch zum Erbe gegeben worden für das, was ihr zu tun pflegtet.} (Qur’ân, Sûra 7 al-A`râf 43) und ähnliche Verse, die darauf hinweisen, daß man durch tugendhafte Werke ins Paradies eingeht, so widersprechen sie nicht diesen Hadîthen.
Vielmehr ist die Bedeutung dieser Verse jener, daß man zwar durch Werke ins Paradies eingeht, jedoch mit göttlich gewährtem Gelingen (taufîq) diese Werke zu vollbringen, sowie rechtgeleitet zu sein, darin aufrichtig zu sein, und dann ihre Annahme als Barmherzigkeit Allahs, des Allerhöchsten, und Seine Gunst.“

Der wahre geistige Pfad ist der der Dankbarkeit. Abû Sulaimân ad-Dârânî pflegte zu sagen: „Wie kann ein vernünftiger Mensch auf seine Werke stolz sein, wenn seine Werke nur ein Geschenk von Allah sind und ein Segen von Ihm, für die er Ihm zu danken hat?“ Und Abû Madyan sagt: „Die Niedergeschlagenheit des Sünders ist besser als das Frohlocken des Gehorsamen.“

Ibn `Atâ’i-Llâh setzt in seinem Weisheitsspruch den Reisenden davon in Kenntnis, nicht vor dem wahren Pfad durch seinen eigenen hohen Vorsatz verschleiert zu sein. Während irâda oder „das Wollen“ eine Voraussetztung des Weges ist und ja das Wort murîd oder „Schüler“ davon abgeleitet ist; sublimiert es der Pfad schließlich durch den Tauhîd in sein Gegenteil, indem aufgezeigt wird, daß es [d.h. „das Wollen“] ein bloße Grund ist, der allein den Aufstieg der Seele nicht logisch notwendig macht, sondern allein Allahs reine Freigebigkeit. Deswegen bezeichnen einige Scheichs den Reisenden vom erstgenannten geistigen Ausgangspunkt aus gesehen einen Murîd oder „Wollenden“, und von einen von letzterem aus gesehen einen Faqîr oder „Bedürftigen“. Der Prophet Mose – Heil und Segen seien auf ihm – sagte, als er in das Land Midian gelangte:

„Mein Herr, ich bedarf des Guten, was immer es sei, das Du auf mich herabsenden magst.“
(Qur’ân, Sûra 28 al-Qasas 24).

Diese bescheidene Aufrichtigkeit gehorsamer Knechtschaft, oder wir könnten sagen Realismus, befähigt den ernsthaften spirituellen Reisenden, sowohl von seinem Guten als auch von seinem Bösen Nutzen zu ziehen. Er hat Nutzen von seinem Guten, indem er es als nicht von sich selbst kommend sieht, da Abû Bakr al-Wâsitî sagt: „Was Allah am meisten verabscheut, ist das Ich und dessen Handlungen [als bedeutungsvoll] anzusehen“. Denn dies widersprâche dem Tauhîd, da Allah - erhaben sei Er in Seiner Majestät - sagt:

„Was ihr an Gunst erfahrt, ist von Allah.“
(Qur’ân, Sûra 16 an-Nahl 53).

Und er hat Nutzen vor dem Bösen [das er tat] durch seinen Glauben (îmân) daß [der ihm zeigt, daß] es böse ist, was in sich selbst einer Handlung des Gehorsams entspricht, und dadurch, daß er es bereut, was wiederum Allah, den Allerhöchsten, erfreuen wird. Anas ibn Mâlik raDiy-Allahu-anhu.gif – Allah habe Wohlgefallen an ihm – überliefert vom Propheten MHMD Allah segne ihn und gebe ihm Heil – die folgenden Worte:

„Allah freut sich wahrlich mehr über die Reue Seines Dieners, wenn sich dieser Ihm [wieder] zuwendet, als jemand von euch auf seinem Reitkamel in einer wasserlosen Wüste, wenn dieses ihm mit allen Nahrungs- und Wasservorräten davonläuft und er die Hoffnung verloren hat, es wiederzufinden und dann zu einem Baum kommt, in dessen Schatten er sich hinlegt, ohne die Hoffnung, sein Reittier jemals wiederzusehen. Während er dort liegt, findet er es plötzlich bei ihm stehend, da ergreift er sein Halfter und spricht außer sich vor Freude: ‚O Allah, Du bist mein Diener, und ich bin Dein Herr‘, und verspricht sich aus übergroßer Freude .“

Das Geheimnis der Reue (tauba) auf dem geistigen Pfad ist, daß ihr mit der göttlichen Freude von Allah, dem Allerhöchsten, entgegnet wird. Abu l-Hasan asch-Schâdhilî, Ibn `Atâ’i-Llâhs Scheich, pflegte täglich zu beten: „Wenn wir Dir ungehorsam sind, dann erweise uns eine noch vollkommenere Barmherzigkeit, als wenn wir Dir gehorsam sind.“

Ibn `Atâ’i-Llâh schrieb diesen ersten Weisheitsspruch in sein Buch der Weisheiten, um den Reisenden davon in Kenntnis zu setzen, daß [geistige] Arbeit geleistet werden muß, auch wenn Fehler vorkommen: [und er zeigt, wie wichtig es ist,] sich in Reue Allah zuzuwenden und zu erkennen, daß Allah [überaus] großzügig ist, und darauf zu vertrauen, vom geistigen Pfad das Beste erlangen zu können.

Ein Indiz dafür, daß man auf Allah vertraut, ist, daß die hoffnungsvolle Erwartung unvermindert bleibt. Ein Indiz dafür, daß man sich auf sein Ich verläßt, ist, daß es sich emporschwingt, bis es einen Fehltritt begeht und aus verletztem Stolz abstürzt. Entmutigung auf dem Pfad bedeutet, daß man die göttliche Allmacht nicht begriffen hat, während Gewißheit auf dem Pfad und gegenüber seinem Herrn zur Adab [das vorbildlichen Verhalten] derjenigen gehört, die Allah kennen.

Quelle: ISLAMICA MAGAZINE, Winter 2003, Nr. 10, S. 83 f.

Übertragen aus dem Englischen von `Abdullâh Frank Bubenheim

Ibn `Atâ’ Allâh, Bedrängnisse sind Teppiche voller Gnaden, übersetzt und eingeleitet von Annemarie Schimmel, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 1987.

Sahîh Muslim 4.2169, Nr. 2816.

Yahyâ ibn Scharaf an-Nawawî, Sahîh Muslim bi-Scharh an-Nawawî, 18 Bde., 1349/1930 (Nachdruck, 18 Bde. in 9, Dâr al-Fikr, Beirut, 1401/1981), 17, 160–61.

Zakariyyâ al-Ansârî, Mustafâ al-`Arûsî und `Abd al-Karîm al-Quschairî, Natâ’idsch al-afkâr, 4 Bde., Kairo, 1290/1875 (Nachdruck, `Abd al-Wakîl ad-Durûbî, o.D.), 1.114.

Schu`aib Abû Madyan al-Ansârî und al-`Arabî asch-Schauwar, Al-Minan ar-rabbâniyya al-wahbiyya fi l-ma’âthir al-Ghauthiyya, Ed. Muhammad al-Hâschimî (als Dîwân al-Qutb ar-Rabbânî al-` Ârif bi-Llâg al-Ghauth as-Samadânî asch-Schaikh Sayyidî Schu`aib Abû Madyan [...]), Matba`a at-Taraqqî, Damaskus, 1357/1958, 50.

Abû `Abd ar-Rahmân as-Sulamî, `Uyûb an-nafs wa-adwiyatuhâ, Ed. Muhammad Amîn al-Fârûqî, Dâr al-`Urûba, Damaskus, 1418/1997, 39.

Muslim 4.2104: 2747.

Abu l-Hasan asch-Schâdhilî und andere Scheichs der Schâdhiliyya-Tarîqa, Invocations of the Shadhili Order, herausgegeben und übersetzt von Nûh Hâ Mîm Keller, Dâr Abu l-Hasan, `Ammân, 1418/1998, 27.

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* (oder: die Abnahme der hoffnungsvollen Erwartung (rajâ')
 
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