Die Einzigkeit Gottes
Imam Al Ghazzali -
Im Glauben an Gottes Einzigkeit gibt es vier Stufen. Die erste ist das Aussprechen der Worte: „Es gibt keinen Gott außer Gott“, ohne dabei irgendeine Regung im Herzen zu verspüren. Dies ist der Glaube der Heuchler.
Die zweite Stufe ist, obige Worte auszusprechen und von deren Wahrheit überzeugt zu sein. Dies ist der Glaubenssatz des einfachen Muslims.
Die dritte ist, die Wahrheit dieses Ausspruchs durch ein inneres Herzenslicht zu erfahren. Über die Vielzahl der Gründe und Ursachen gelangt die Vernunft zur Erkenntnis der Einzigkeit der ersten und letzten, der endgültigen, finalen Ursache. Dies ist die Stufe der Eingeweihten.
Die vierte ist ein Augenblick - der Vision des Allumfassenden, des Einen, alles Einschließenden - und dabei selbst die Dualität des eigenen Selbst aus dem Blick zu verlieren. Dies ist die höchste Stufe des wahrhaft in Gott Ergebenen.
Die Sufis bezeichnen diesen Zustand als: „fana fit-tauhid“ d.h. die Auslöschung der eigenen Individualität bei der Betrachtung der Einzigkeit Gottes.
Um ein Gleichnis zu verwenden, können diese vier Stufen mit einer Walnuss verglichen werden, welche aus folgenden Teilen zusammengesetzt ist:
die äußere harte Schale,
die innere Haut,
der Kern und
das Öl.
Die harte Schale hat keinen besonderen Wert, außer, dass sie für eine Weile eine Schutzfunktion übernimmt. Wenn der Kern herausgeschält ist, wird sie fortgeworfen. Wie der Heuchler, der zwar die Kalima ausspricht und daher mit den Muslimen gleichgesetzt wird und deren Privilegien in Sicherheit genießt, doch nach dem Tod von ihnen getrennt wird und kopfüber der Verdammnis verfällt.
Die innere Haut ist zwar brauchbarer, insofern sie den Kern schützt und auch konsumiert werden kann, doch reicht sie bei weitem nicht an den Wert des Kerns selbst heran. So ist dies auch mit dem dogmatischen Glauben des einfachen Muslims, als er wertvoller als das Lippenbekenntnis des Heuchlers zu werten ist, und ihm doch die wahre Einsicht fehlt, die so beschrieben wird: „Er, dessen Herz Allah für den Islam geöffnet hat, schreitet in Seinem Licht.“ Zweifellos ist der Kern die gewünschte Sache, doch beinhaltet er noch Substanzen, welche erst dann hervortreten, wenn das Öl ausgepresst wird. Gleichermaßen ist die Erkenntnis der allem zugrunde liegenden Ursache, das gewünschte Ziel des Ergebenen, wenn auch ein untergeordnetes zu dem der Vision des Allumfassenden, Heiligen, Einen – denn die Erfahrung der Kausalität beinhaltet immer noch Dualität.
Nun kann der Einwand vorgebracht werden: Wie kann man die Unterschiedlichkeit und Vielfalt im Universum ignorieren?
Der Mensch besitzt Hände und Füße, Knochen und Blut, Herz und Seele, alles von einander verschieden und dennoch ist er ein Individuum. Wenn wir an einen lieben alten Freund denken und er plötzlich vor uns steht, denken wir nicht an die Vielzahl seiner körperlichen Organe, sondern sind erfreut, ihn zu sehen. Dieses Gleichnis, auch wenn es nicht wirklich angebracht ist, ist wenigstens für den Anfänger ganz anschaulich. Wenn er diese Stufe erreicht, wird er/sie dessen Wahrheitsgehalt schon erkennen. Worte reichen nicht aus, um die Schönheit dieser höchsten Stufe zum Ausdruck zu bringen. Sie kann erlebt, aber nicht beschrieben werden. [3]
Lasst uns nun die dritte Stufe eingehender betrachten. Der Mensch erkennt, dass Gott alleine die erste und einzige Ursache für alles Existierende ist. Die Welt, ihre Objekte, das Leben, der Tod, Glück, Unglück all dies hat seinen Ursprung in Seiner Allmacht. Niemand kann Ihm in dieser Angelegenheit zur Seite gestellt werden. Wenn der Mensch dies erkennt, so verliert er die Furcht vor allem, denn er legt sein ganzes Vertrauen in Gott alleine. Doch Satan versucht ihn, durch die verfälschte Darstellung der Kräfte der organischen und anorganischen Welten, als wären sie mächtige Faktoren, unabhängige Kräfte bei ihrem Einfluss auf seine Schicksalsgestaltung.
Denke zuerst an die anorganische Welt. Der Mensch glaubt, dass der Getreidewuchs vom Regen abhängt und dass die Wolken durch die normalen klimatischen Bedingungen zusammengetrieben werden. Gleichermaßen hänge das Fortkommen der Segelboote von günstigen Winden ab. [4] Zweifellos sind dies unmittelbare Ursachen, doch sind diese nicht unabhängig. Der Mensch, der in Zeiten der Not um Gottes geheimnisvolle Hilfe fleht, vergisst Ihn und wendet sich erneut den äußeren Ursachen zu, wenn er sich wieder sicher fühlt.
Und wenn sie ein Schiff besteigen, dann rufen sie Allah an - aus reinem Glauben heraus. Bringt Er sie dann aber heil ans Land, siehe, dann stellen sie (Ihm) Götter zur Seite und leugnen somit das, was Wir ihnen beschert haben, und ergötzen sich. Bald aber werden sie es erfahren! [29:65-66]
Wenn ein Verurteilter, dessen Todesurteil vom König aufgehoben wurde, in der Schreibfeder den Grund seiner Erettung erblickt, wäre dies nicht reine Ignoranz und Undankbarkeit? Natürlich sind die Sonne, der Mond, die Sterne, die Wolken – das ganze Universum – wie die Schreibfeder in der Hand des Allmächtigen, diktierenden Herrschers. Wenn diese Art des Denkens den Verstand bestimmt, wird der Satan eine Enttäuschung erleben, den Menschen auf versteckte Art und Weise zu versuchen und wird auf subtilere Mittel zurückgreifen, wie z.B.: „Siehst du nicht, dass der König unumschränkte Macht hat, dich entweder zu vernichten oder dich zu begünstigen und dass die Feder, wie im obigen Beispiel, dich ausliefert, doch der Schreiber gewiss dafür verantwortlich ist?“ Diese Art von Überlegung führt zu der verwirrenden Frage nach dem freien Willen, mit der wir uns ja schon in einiger Ausführlichkeit beschäftigt haben.
Als Erinnerung wollen wir uns vor Augen halten, dass gerade wie eine Ameise, die aus ihrem beschränkten Blickwinkel nur die Federspitze erkennen kann, welche ein Blatt Papier mit Tinte schwärzt und schon die Finger nicht mehr bemerkt und erst recht nicht die Hand oder den Willen des Schreibers, eine Person mit schwacher geistiger Einsicht, Geschehnisse nur der unmittelbar ausführenden Kraft zuschreibt. Doch es gibt solche, welche im Licht der Intuition und Einsicht, diese versteckte Gefahr aufzeigen, Macht irgendwem oder irgendetwas außer Gott, dem Allmächtigen, Allwissenden Wesen zuzuschreiben. Ihnen ruft jedes Atom im Universum die Wahrheit dieser Offenbarung zu. Sie finden die „Zungen“ in den Bäumen, Büchern, murmelnden Bächen, in Fels und Stein eingeschrieben. Das Weltenkind spricht: „Wir haben doch Ohren, und dennoch hören wir dies nicht.“ Doch auch Esel haben Ohren und hören diese Offenbarung nicht. Wahrlich es gibt Ohren, welche lautlosen Worten zu lauschen verstehen, Worte, weder in arabischer oder sonst einer anderen, der Menschheit bekannten Sprache. Solche Worte sind Tropfen im endlosen, unermesslichen Meer Göttlichen Wissens:
„Sprich: "Wäre das Meer Tinte für die Worte meines Herrn, wahrlich, das Meer würde versiegen, ehe die Worte meines Herrn zu Ende gingen, auch wenn wir noch ein gleiches als Nachschub brächten." [18:109]
Ihya ulum du Din IV.5.
aus:
"SOME MORAL and RELIGIOUS TEACHINGS of AL - GHAZZALI"
by SYED NAWAB ALI
Published by:
SH. MUHAMMAD ASHRAF, Pakistan
Übersetzer: Muhammad Michael HANEL