Lehrjahre von Shah Naqshband
Grab von Sayyid Amir Kulal
„In den frühen Tagen meiner Suche begegnete ich dem großen Meister und Gottesfreund Amîr Kulâl. Zu jener Zeit befand ich mich in einem ekstatischen Zustand. Er sagte zu mir: ‚Versuche die Herzen zu heilen! Diene den Schwachen! Schütze die Armen und die, die gebrochenen Herzens sind! Sie sind diejenigen, denen von anderen Leuten nichts zukommt. In ihrer Gegenwart findet das Herz zu vollkommener Ruhe, Demut und Selbstlosigkeit. Sie sollst Du suchen!’
Ich folgte dem Rat dieses großen Meisters und arbeitete für lange Zeit auf diesem Gebiet. Anschließend befahl er mir, Tieren zu dienen, indem ich ihre Krankheiten heilte. Er befahl mir, ohne weitere Hilfsmittel mit aufrichtiger Hingabe ihre Wunden zu reinigen und zu verbinden. Ich erfüllte auch diese Aufgabe, indem ich seine Anweisungen bis aufs Wort genau befolgte.
In jener Zeit war ich in einem solchen Zustand, daß ich, wenn ich auf der Straße einem Hund begegnete, anhielt und diesem den Vortritt ließ, weil ich ihm auf keinen Fall zuvorkommen wollte. Dieser Zustand hielt ununterbrochen sieben Jahre lang an.
Dann befahl er mir, seinen eigenen Hunden treu und respektvoll zu dienen und sie um Unterstützung (al-Imdâd) zu bitten. Er sagte: "Du wirst, während du einem von diesen Hunden dienst, große Glückseligkeit erfahren!’ Ich wußte, daß dieser Befehl ein großes Geschenk für mich war. Ich unterließ keine Anstrengung. Ich hatte die Bedeutung seiner Bemerkung verstanden und wartete auf das frohe Ereignis. Als ich eines Tages einen der Hunde versorgte, wurde meine Seele von einem gewaltigen Zustand überwältigt. Ich stand vor dem Hund. Der Hund schaute mich an und ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten. Mir war, als wäre es Qitmîr, der gesegnete Hund der Siebenschläfer… Während ich weinte, legte sich der Hund auf den Rücken und streckte seine Pfoten zum Himmel. Dann begann er ebenfalls zu weinen und Geräusche der Trauer von sich zu geben. Auch ich hob voller Demut meine Hände und sagte: ,Amîn!’ Dann beruhigte sich der Hund und erhob sich wieder.
An einem anderen jener Tage verließ ich das Haus, um zu irgendeinem Ort zu gehen. Unterwegs begegnete ich einem Chamäleon, dessen Farben sich mit der Farbe des Sonnenlichtes veränderten. Es befand sich in einem Zustand von Ekstase. Auch ich geriet bei seinem Anblick in Ekstase und sagte zu mir selbst: ,Ich will dieses Tier um seine Fürsprache am Jüngsten Tage bitten, denn dieses gesegnete Tier hat sicherlich die Stufe erreicht, Fürsprecher für andere zu sein!’ Ich stand vor ihm in vorbildlichem, respektvollem Benehmen und erhob meine Hände. Dieses gesegnete Tier ging in spirituelle Zustände über, in die es gleichsam hineingezogen wurde, legte sich auf den Rücken und wandte sein Gesicht dem Himmel zu. Während es in dieser Position verharrte sagte ich: ,Amîn!’
Später befahl mir mein Meister, die Straßen von allem zu säubern, was die Menschen auf ihren Wegen behindern könnte. Ich bemühte mich sieben Jahre lang derart, diese Aufgabe zu erfüllen, daß meine Kleider stets schmutzig vom Staub der Steine und der Straßen waren, die ich zu säubern hatte.
Zusammengefaßt kann ich sagen, daß ich mit voller Aufrichtigkeit und treulich genau all das tat, was der große Meister Amîr Kulâl mir an Aufgaben gab. Meine Seele wurde dadurch erfüllt von spiritueller Freude und mein Zustand erlebte gewaltige Veränderungen.“
aus Hadâ’iqatu l-Wardiyya von Scheikh ´Abd al-Majîd al-Khânî (gest. 1319 Hijrî)
übersetzt von ´Abd al-Hafidh Wentzel